Pfingsten in Vlissingen

„What a beautiful noise, comin’ up from the street …“ singe ich vor mich hin, und blicke wiederum auf die Weite des Meeres. Von meinem so sehr geschätzten Cadzand bin ich weitergezogen gen Norden. Von Ruhe, Stille und Naturerlebnissen zu Lebendigkeit, Menschengewirr und an eine überaus belebte Seeschiff Verbindung. Die Westerschelde. Sie ist die stark frequentierte Einfahrt zu den Häfen Vlissingen, Terneuzen und Antwerpen.

In Vlissingen sitze ich sozusagen an ihrer Mündung. Aus den Fenstern meines Appartements könnte ich den ganzen Tag die verschiedensten Schiffe bei der Einfahrt bestaunen. Zum Anfassen nahe, fahren sie vorbei und lösen Phantasiebilder von fernen Ländern und von der harten Arbeit der Matrosen auf See bei mir aus. Nicht selten klingt ein Shanty in meinem Ohr dazu.

 

 

Aus aller Welt kommen die Schiffe eingefahren, teilweise hoch mit Containern beladen, Frachter mit chemischen Stoffen, mit Schüttgut, Stückgut, Krabbenkutter oder Schlepper und viele, viele Arten mehr. Die Einfahrt besteht aus zwei Wasserströmungen. Westlich verläuft die Wielingen, auf welcher die sehr großen Schiffe gefahren kommen, und der östlich verlaufende Priel ist das Oostgat, auf welchem die kleinen bis mittleren Schiffe einfahren. Die in Vlissingen stationierten niederländischen und belgischen Lotsen bringen sie gewissenhaft an ihr Ziel.
Fast fällt es schwer, den Platz in der ersten Reihe auf dem kleinen Balkon zu verlassen. Unglaublich nahe und unvorstellbar groß kommt hier die ganze Welt vorbeigefahren, wie man an den Flaggen unschwer erkennen kann.

 

Und vom Boulevard de Ruyter dringt der „beautiful sound“, dringt der „beautiful beat“ zu mir hoch. Den Begleitgesang liefern das beruhigenden Rauschen und der Takt der Wellen.

Nur zögerlich verlasse ich meinen Logenplatz und mache mich auf den Weg zu meinem täglichen Spaziergang am Meer. Dazu überquere ich nur den Boulevard de Ruyter und die Strandpromenade, die als die längste in Holland gilt. Schon schmeiße ich meine Sandalen von den Füssen und laufe barfuß durch den warmen, weißen Sand. Das Wetter ist traumhaft. Das Wasser längst nicht mehr zu kalt zum Baden. Was vermutlich auch die Ursache für die vielen Quallen ist, die im Sand liegen. Ich finde sie faszinierend, auch wenn ich ungern mit ihnen in Kontakt kommen möchte, schon gar nicht mit den orangenbraunen oder rotbraunen Feuerquallen. Dunkel erinnere ich mich an ein solches Erlebnis in meiner Kindheit hier in Holland.

 

Schier unendlich kann man den Strand entlang gehen bis nach Westkapelle zum Beispiel und im Grunde immer weiter, wenn man Ausdauer hat und den Rückweg dabei auch mitbedenkt. Auch hier ist man immerzu begleitet von den in die Mündung einfahrenden Schiffen.

 

Normalerweise reihen sich in Vlissingen eine Veranstaltung an die nächste. Doch in Corona Zeiten hat die niederländische Regierung auch diese lebendige Stadt nicht verschont und bis zum 1. September jegliche Veranstaltung untersagt.
Dann soll es wieder los gehen. Kulinarische und musikalische Festivals wechseln sich ab, sogar ein Filmfestival mit internationalen Stars findet normalerweise im September hier statt.

Den Einwohnern scheint der momentane Stillstand nichts auszumachen. Sie gehen ihren täglichen Angelegenheiten nach. Sitzen mit dem „Kopje Koffee“ auf ihren Terrassen beim Plausch mit den Nachbarn, schlendern geschmackvoll gekleidet über den Markt und am Sonntag packen sie ihre Liegestühle unter den Arm und ziehen an den Strand. Vereinzelt versteckt sich ein Tourist aus Deutschland – vermutlich aus NRW, da es die anderen noch nicht gemerkt haben, dass man nach Holland einreisen kann, – unter den Strandbesuchern.
Ich kann mir vorstellen, dass es am 01. Juni, dem Tag an dem alle Restaurants wieder öffnen dürfen, die eine oder andere Freudenfeier geben wird.
Die Einfahrt der unzähligen Schiffe deutet darauf hin, dass die in Frage kommenden Häfen nicht geschlossen haben. Wie auch, wartet man doch sicher überall in Europa auf manch ferne Güter. In Antwerpen soll es zwar eine Covid 19-Taskforce geben, aber es ist dafür gesorgt, dass der Hafen zu 100% funktionsfähig bleibt.

 

Auf meinem Heimweg schlendere ich noch ein wenig durch die Stadt. Die Fußgängerzone wimmelt nur so von Menschen. Auf Masken verzichtet man in Holland und so kann man nur beobachten, wie sich die Menschen in den Läden um den auch hier auf 1,50 m festgelegten Mindestabstand bemühen. Wo immer ich meine Maske trage, lächelt man mich freundlich an und erklärt mir nicht ohne Stolz, dass ich das doch hier in Zeeland nicht brauche.

Am Samstag Morgen gönne ich mir frische Brötchen. Dazu habe ich mir gestern bei meinem Gang durch die Stadt schon einen vielversprechenden Bäcker ausgesucht. Ich muss keinen Laden betreten, sondern kann an der Theke von der Straße aus einkaufen. Über den Markt schlendere ich zurück und nutze die Gelegenheit eines gerade kaum besuchten Gemüsestands und versorge mich unplanmäßig mit frischem Spargel. Zwei großen Pfingstrosensträußen kann ich ebenfalls nicht widerstehen und zufrieden sowie überrascht wie gefahrlos ich in Coronazeiten dann doch einmal einkaufen konnte, trete ich den Rückweg an.

Festlich werde ich die Pfingstfeiertage begehen, kulinarisch wie geistig. Im Onlinemagazin der Zeit lese ich abends den Beitrag von Thomas Assheuer: „Das Ich ist die Sonne„. Er sucht Antwort auf die Frage, was uns dieses Hochfest heute noch bedeuten kann und fragt sich, „was hält eine Welt zusammen, die nur aus Einzelkämpfern besteht?.
Nun behauptet die Bibel nicht“, schreibt er „dass die Menschen seinerzeit in Galiläa, sich plötzlich zum Verwechseln ähnlich gesehen hätten. Nein, in ihrer Gleichheit sind sie sehr wohl Unterschiedene; die Römer bleiben Römer, und die Griechen bleiben Griechen. Gleichwohl verbürgt der egalitäre “Heilige Geist” die Einheit ihrer Unterschiede; er verbürgt das Gemeinsame jenseits brutaler Trennungen, jenseits von Herkunft und Religion. Pfingsten ist Differenz ohne Feindschaft und ohne Gewalt.“ Dieser Gedanke gefällt mir, ich schließe die Augen und denke ihm nach.
Ist es nicht gerade hier in Holland so, dass Trennendes immer noch vorhanden ist. Waren nicht gerade sie es, die die schreckliche Wandlung ihrer deutschen Nachbarn, mit denen sie historisch immer stark verbunden waren, zu faschistischen, menschenverachtenden Bestien, als brutale Trennung erfahren mussten.
Ich sehe es in manch freundlich versteinertem Blick, wenn ich sage, dass ich Deutsche bin. Selbstverständlich gibt es sie noch, die Menschen, die mit uns Deutschen die unrühmliche Besetzung ihres Heimatlandes im zweiten Weltkrieg in Verbindung bringen.
Auch hier in Vlissingen sind wohl kaum die Wunden schon vollständig verheilt. Aufgrund seiner besonderen Lage am Schifffahrtsweg nach Antwerpen war die Halbinsel Walcheren, auf welcher Vlissingen liegt, für die Deutschen Besatzer von größter strategischer Bedeutung. Gerade hier mussten sehr viele Menschen ihr Leben lassen. Besonders die Befreiungsschlacht, die sogenannte „Schlacht an der Schelde“, endete mit vielen Toten. Nicht nur unter den Soldaten, nein, auch die Zivilbevölkerung betrauerte viele Opfer. Die Deutschen hatten es den Angreifern 1944 nicht leicht gemacht. Sie hatten die Halbinsel Walcheren extrem stark befestigt. Dadurch wurde es eine zähe, langwierige Schlacht, die zudem noch auf vorwiegend überschwemmtem, schlammigem Gelände stattfinden musste.

Den Besuch des Befreiungsmuseums in Vlissingen nehme ich mir für die hoffentlich einmal Wirklichkeit werdende Zeit nach Corona ganz fest vor.

Seltsamerweise sind es gar nicht einmal die Älteren, von denen man meinen müsste, dass sie mit ihren Erinnerungen viel näher an die Zeit heranreichen, die den Deutschen misstrauen. Nein, junge Leute habe ich erlebt, die noch immer Vorbehalte haben, wenn sie mit uns Deutschen zu tun haben. Fast kann man von Glück reden, dass es sozusagen „egalitäre“ Wirtschaftsinteressen sind, die dafür bürgen, dass wir in Holland wieder zu gern gesehenen Gästen wurden. Heute können wir als Touristen und Handelspartner die Chance nutzen, uns als friedliche und freundliche Nachbarn etwas Vertrauen zurück zu gewinnen. Ein egalitärer Heiliger Geist könnte dabei gewiss nicht schaden. Auch wenn er in diesem Jahr keine Menschen in feierlicher Runde antrifft. Nicht einmal in den Kirchen, denen bis einschließlich Pfingsten der öffentliche Gottesdienst untersagt ist. SARS CoV 2 steht in diesem Fall dem pfingstlichen Gedanken im Weg.

Der Sonntagmorgen hält, was ich mir versprochen habe. Auf dem Boulevard unter mir herrscht Ruhe, das Lied der Wellen und leise Musik von Bach aus meinem Laptop-Lautsprecher. Ein leichter Wind dringt vom Balkon her zu mir an den Frühstückstisch.

 

 

Der Abschied naht, und ich bin überzeugt, dass dieser Umstand zu einem noch tieferen Genuss und einer noch achtsameren Wahrnehmung der besonderen Stimmung beiträgt. „… and it makes me feel good…“

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