Viel zu schnell verrann die Zeit und ich konnte nicht einmal annähernd die kulturellen Highlights besuchen, die eigentlich unabdingbar gewesen wären, hätte ich nur einen Hauch des Spirits erfassen wollen, welches das historische Kyoto dem geduldigen Reisenden bietet. So vieles mehr hätte ich dafür noch anschauen, kennenlernen oder tun müssen und wollen. Aber, der letzte Tag war unerbittlich herangerückt. Es galt Entscheidungen zu treffen. Ich nahm mir 2 – 3 Orte auf das Tagesprogramm und machte mich am Morgen auf in Richtung des „Ginkaku-ji“. Nicht, um mit diesem einen weiteren Tempel zu besuchen, auch wenn das sicher reizvoll gewesen wäre, nein, ich wollte den Spazierweg des ehemaligen Philosophie Professors „Nishida Kitaro” (1870 -1945) gehen und herausfinden, was diesen Philosophen, der als Begründer der modernen Philosophie Japans gilt, daran so sehr fasziniert haben mag, dass er ihn jeden Tag ging.
Tempel und Spazierweg liegen am Fuße der „Higashiyama Berge“, was soviel heißt wie die Ostberge. Ich hatte mich wiederum für den Bus entschieden und erwartungsvoll verließ ich diesen, nach gewiss mehr als 40 Minuten Fahrt vom Bahnhof aus. Zunächst musste ich durch das kleinstädtisch anmutende Zentrum des Vorortes und ein bisschen bergan in Richtung des Waldes gehen. Dann, mit einem Mal, gelangte ich an einen Kanal über den sich in Abständen kleine Brücken spannten. So ungefähr sollte der Spazierweg aussehen. Vor einem japanischen Schild standen zwei junge Leute, die ich für Studenten hielt. Sie diskutierten heftig, und ich hatte die Vermutung, dass sie ganz gewiss über die Philosophie des Herrn Nishida diskutierten. Kurzerhand nahm ich die beiden jungen Leute als Hinweis darauf, dass hier der Weg beginnen würde. Und so war es.
Zunächst war da nichts besonderes an diesem Weg entlang des kleinen Kanals. Wohnhäuser der gehobenen Mittelklasse säumten den Weg zusammen mit – man mag es kaum glauben -, immer noch hier und da herbstlich gefärbten Bäumen –
Aber, nachdem ich eine ganze Weile mal auf der rechten mal auf der linken Seite des Kanals entlang spaziert war, musste ich feststellen, dass der Weg wirklich sehr schön war. Zum ersten Mal, seitdem ich in Japan war, dachte ich vermehrt, hier würde ich wohnen wollten, müsste ich in Kyoto eine Bleibe suchen. Es ist immer schwer, die richtigen Worte zur Beschreibung eines Ortes zu finden, für diesen Weg hier würde ich sagen, er war idyllisch, beruhigend und erholsam. Nichts Lautes oder Grelles störte die Sinne. Auch die kleinen Geschäfte, die hier und da an der parallellaufenden Straße Ihr Kunsthandwerk oder ihre Speisen anboten, waren dezent oder verspielt in das Gesamtbild eingebettet. Immer wieder ging ich dann auch vom Weg einmal ab und streifte durch einen der kleinen Läden. Meist waren es kunsthandwerklich hergestellte Gegenstände, die hier angeboten wurden und die Künstler saßen, völlig uninteressiert am Verkauf ihrer Artefakte, hinter den Theken und lasen.
Viel war nicht los zu dieser Jahreszeit, und das empfand ich als großes Glück. Ich vermutete, dass zu Lebzeiten Nishidas noch keine Häuser und Geschäfte hier gestanden hatten, – oder wenn doch, nur sehr wenige -, und, dass er hier einfach nur seinen Geist beruhigen und ordnen konnte, oder wie einst die antiken Philosophen in Ihren Säulenhallen, am besten ungestört denken wollte und deshalb stattdessen unter diesen Bäumen wandelte. Möglich ist auch, dass er bei seinen Spaziergängen seine Theorie über die „Reine Erfahrung“ entwickelte, welche dann Basis seiner Schriften von „Erfahrung und Bewusstsein“ wurde. Wer weiß, vielleicht wollte er aber mit seinem täglichen Spaziergang entlang des Kanals, so wie Kant, seinen Tag strukturieren. Dass er um dessen Gepflogenheit wusste, ist anzunehmen, da er sich schon früh auch mit den Neo Kantianern sowie mit Fichte, Hegel und Husserl auseinandersetzte. Von Hegel sei die dialektische Sprachform mehr und mehr in Nishidas eigene Formulierungen übergegangen, sagt John C. Maraldo, von dem ich eine umfassende Einleitung in seinem Artikel über Nishida Kitharo lesen konnte. Überhaupt sei seine Art des Philosophierens eine phänomenologische Metaphysik gewesen, so Maraldo. Das Besondere und Moderne an Nishida liegt denn auch in seiner Öffnung zur westlichen Philosophie und seinem lebenslangen Versuch begründet, sich mit den westlichen Philosophen und ihren Theorien auseinanderzusetzen um diese mit den ostasiatische Denkansätzen zu vergleichen bzw. ins Verhältnis zu setzen. So ist es für mich auch kein Wunder, dass er sich zum Ende seiner Laufbahn mehr und mehr der Religionsphilosophie zuwandte und auch die christliche Mystik zum Gegenstand seiner Untersuchungen machte. Dazu fällt mir natürlich sofort Meister Eckhart ein; und in der Tat kam selbstverständlich auch Nishida nicht an Meister Eckhart vorbei, wie es den Ausführungen Maraldos zu entnehmen ist. Von westlicher Seite sind mir diese Zugänge bisher schon eher bekannt gewesen. Man denke u. v.a. nur an Goethe, Nietzsche oder Nikolaus von Kues. Überhaupt scheint es mir, als wiesen manche Gedanken Nishidas in seiner späteren Religionsphilosophie auch auf die vorangegangene Lektüre des Cusanus hin.
Dankbar nehme ich diesen Spaziergang als Gelegenheit, mich wieder einmal mit der Gedankenwelt eines Philosophen auseinander zu setzen. Wie sehr wünschte ich mir, ich könnte, zurück zu Hause, noch ein bisschen mehr über diese west-östlichen Annäherungsversuche in der Philosophie in Erfahrung bringen. Sie wecken doch sehr meinen Wissensdurst. Auf dieser Reise werde ich mich nun weiteren Erfahrungen widmen und öffnen müssen, ich reise nun leider nicht mit einem großen Zeitkontingent.
Einen anderen Durst und einen kleinen Hunger stille ich an diesem Tag wiederum in einem sehr netten kleinen Bistro. Es scheint mir ziemlich neu zu sein, und die jungen Leute, die es betreiben, sind sehr engagiert. Zunächst bin ich der einzige Gast und genieße, von einem Sessel in der ersten Reihe aus, den Blick auf den Philosophenweg. Beobachte die Pärchen, die vorbeigehen und sehe hier nun auch einzelne, in Ihre Gedanken vertiefte Frauen und Männer, den Weg entlang gehen.
Ich entscheide mich für einen geräucherten Lachs und kann es mir nicht verkneifen, dazu ein Glas Chardonnay zu genießen. Mmh, ein Lob auf die Weltlichkeit und das Verlassen der Wege manch strenger Lehren. Das ist jetzt ein „runterkommen“ auf weltliche Art.
So sehr ich auch die Lehren der verschiedenen buddhistischen Schulen und im Besonderen den Zen – Buddhismus verstehe, bewundere und die vor allem Disziplin einfordernden Regeln für durchaus sinnvoll erachte, so bleibe ich doch immer auch in gewisser Distanz dazu. Zu vielfältig und schön erscheinen mir die Angebote des prallen Lebens, dass ich nicht auch damit, der Schöpfung huldigen möchte. Schon früh und schon oft habe ich mich mit den Lehren Buddhas auseinandergesetzt und das Wissen um die Seele des Menschen um sein ganzes Denken und Fühlen darin bewundert. Dennoch scheue ich wie ein Pferd vor dem Schatten, wenn ich versuche, in letzter Konsequenz mich darauf einzulassen. Ein Gleichmass im Leben, so erstrebenswert dies scheint, ist mir letztendlich immer zu lustfeindlich, zu regungs- und erregungslos im Guten wie im Schlechten. Streng die Regeln praktizierende Buddhisten waren mit deshalb immer auch ein klein wenig unheimlich, da viel zu emotionslos. Und so werde ich wohl auch weiterhin leben, leiden und lieben müssen, mit allen Hochs und Tiefs, die das undisziplinierte Einlassen, vor allem auch auf Gefühle, mit sich bringt. Mag dies auch der steinigere Weg sein, er ist einfach himmelhoch jauchzend zu Tode betrübt schön.
Beschwingt verlasse ich das kleine Restaurant und gehe leise vor mich hinsinnierend den Weg des Philosophen weiter, bis zu seinem Ende in Nähe des Nanzen-ji Tempels. Schon wieder dämmert es. Nun gilt es sich endgültig zu entscheiden. Nochmals einen Anlauf nach Gion oder doch zu dem Fushimi Inari -Taisha Schrein, der ganz oben auf meiner Wunschliste stand.
Nach einigen Kilometern, steige ich in den Bus in Richtung Fushimi, wo sich der Schrein, der auch als Oinari-san bezeichnet wird, befinden soll – und das, obwohl es nun, um ca. 18 Uhr abends, bereits dunkel ist. Aber viele Tempel sind ja doch bis 20 Uhr geöffnet. Ich versuch`s und ich hoffe!
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